Saturday, September 25, 2010

Fluss - River


Fluss

So paradox es klingt: Eintagsfliegen können, die Jugendstadien mit zahlreichen Häutungen mitgezählt, eine Lebenszeit von weit über einem Jahr haben. Minetti hält die geschlossene Hand ans Ohr und hört dem Summen einer gefangenen Fliege zu. Wie ist doch die Welt rätselhaft eingerichtet! Von sämtlichen Säugern werden die Menschen zwar am ältesten, wollen immer noch älter werden und sind dennoch weit von Bartwürmern und Riesenschildkröten entfernt, die zweihundert Lebensjahre erreichen. Zieht man die Labilität und Manipulierbarkeit menschlicher Intelligenz in Betracht, wären allerdings Demut und Bescheidenheit gefragt, nicht Lebensverlängerung. Minetti beobachtet den Fluss, in dem er seine Füsse kühlt. Bei anhaltenden Regenfällen wechselt er die Farbe, schwillt an, leckt sich Stege, Böschungen und Mauern hoch, wird schneller, mit kaum zu bändigender Gewalt überflutet er gebieterisch das Vorland, Treibholz türmt sich zu Hindernissen, die er ohne Kraft zu verlieren umfliesst, bis er sich wieder in sein übliches Bett, bei langen Trockenzeiten auch in ein schmaleres zurückzieht. Immer schon, stumm, unermüdlich, zyklisch. Als er die Hand öffnet, verliert sich das Summen der Fliege im Geräusch des Wassers, und in diesem Augenblick ist er sich gewiss, dass ihm der Fluss auf diesselbe Weise zugehört hat wie er der Fliege.


River

As paradoxical as it sounds: dayflies can have—adolescent stages and numerous molts included—a lifespan of well over a year. Minetti holds his closed hand to his ear and listens to the buzzing of the captured fly. The world is mysterious, isn’t it! Although of all mammals humans grow the oldest, and are forever wanting to grow even older, they are still a far cry from beard worms and giant tortoises, which reach an age of two hundred years. If the instability and manipulability of human intelligence are taken into account, humility and modesty would be more apropos, however, than longevity. Minetti observes the river in which he is cooling his feet. With continual rains it changes color, swells, laps high up bridges, banks, and walls, becomes faster, imperiously floods the foreshore with nearly uncontrollable force, and flows around obstacles of towered driftwood without losing strength until it retreats to its normal bed, or to a narrower one when dry seasons are long. Timeless, silent, tireless, cyclical. As he opens his hand the buzzing of the fly becomes lost in the sound of the water and at this moment he is certain the river listened to him just as he listened to the fly.

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