Friday, March 26, 2010

Grosser Plan - Master Plan


Grosser Plan

Im Dachzimmer rechts oben, vor dessen Fenster Geranien verkümmern, massiert eine alte Frau mühsam atmend ihre Beine mit einem krampflösenden Mittel, im Stockwerk darunter wird das Tuch von einem Vogelbauer gehoben und das Sittichpärchen erwacht. Eine Etage tiefer giesst sich ein Mann, der von der Nachtschicht nach Hause gekommen ist, einen Kaffee ein. In der Wohnung daneben steht Ana Bela Pinto vor dem Spiegel, entfernt mit einer Pinzette einige Haare aus der Achselhöhle und schaut sich hellwach und mit berechtigter Zufriedenheit an. Im zweiten Stockwerk, vielleicht an Ana Bela denkend, drängt sich ein anderer Mann seiner Frau auf, weil er träumte, sie habe sich ihm seit Monaten verweigert. In der Wohnung über dem Flur, mit dem begehrten Blick auf den Zentralpark, wird ebenfalls geträumt: Ein zehnjähriges Mädchen meint, es könne fliegen, breitet die Arme aus und lächelt selig. Im Erdgeschoss stopft eine Frau Arbeitswäsche in die Waschmaschine, während in der angrenzenden Wohnung ein sechzigjähriger Mann im Schlaf murmelt: „Sie hat es wieder getan.“ – „Was?“ fragt seine Frau im Bett neben ihm mit pelziger Stimme, dreht sich auf die andere Seite und schläft weiter.
Welch verlockende Vorstellung, denkt Maag, an einem Steuerpult zu sitzen und nach einem grossen Plan Regie zu führen. Und wenn es nur dazu wäre, wenigstens einmal rechtzeitig zu einer Verabredung zu kommen. Obwohl er hoffnungslos zu spät ist, wirft er hastig seine Jacke über und verlässt das Haus.

Master Plan

In the top right garret, the one with the geraniums withering in the window, an old woman, her breathing labored, massages her legs with an antispasmodic; on the floor below, the cloth cover is lifted from a birdcage and a pair of parakeets awakens. One story down, a man having arrived home from the night shift pours himself a cup of coffee. In the apartment next door, Ana Bela Pinto stands in front of the mirror, removes a few hairs from her armpit with a pair of tweezers, and examines herself, wide-awake and with legitimate satisfaction. On the third floor another man, perhaps thinking of Ana Bela Pinto, forces himself on his wife because he dreamt she had been refusing him for months. In the apartment across the hall, with the coveted view of City Park, more dreams are dreamt: a ten-year-old girl thinks she can fly, stretches out her arms, and smiles blissfully. A woman on the ground floor stuffs work clothes into a washing machine, while in the adjacent apartment a sixty-year-old man mutters in his sleep “she did it again”—“what?” his wife in the bed next to his asks with a furry voice turning over to her other side and falling back asleep.
What an enticing idea, Maag thinks, to sit at a control panel and direct following a master plan. Even if it were only, just once, to arrive at an appointment on time. Although he is hopelessly late, he hastily throws on his jacket and leaves the building.

Thursday, March 11, 2010

Concertino

Concertino

Der grosse, runde Tisch im Klubzimmer des Stadtcafés ist perfekt gedeckt: Fünf Teller, Messer, Gabeln, Löffel, Weissweingläser, bauchige Rotweingläser und – der Anordnung der Gedecke entsprechend – für fünf Leute. Neben dem Löffel an jedem Platz ein Handy. Die Gäste, hochkonzentriert, haben die Handflächen auf den Tisch gelegt. Ist eine nervöse Spannung zu verspüren? Wird es gut gehen?
Und schon beginnt es.
Das erste Handy intoniert eine Amsel, das zweite die ersten Takte der Nationalhymne, das dritte einen pfeifenden Teekessel, das vierte das von der stolzen Wöchnerin eingespeiste Krähen ihres Neugeborenen, eines Knaben (51 cm, 3700 g), das fünfte fügt das Klacken einer mechanischen Schreibmaschine (Hermes Media 3) hinzu, auf der immer dasselbe Wort, nämlich Kikeriki, mit klingelnder Zeilenschaltung nach jeder Silbe, geschrieben wird.
Welch ein Klanggebilde!
„Bravo!“ Maag schaltet im Nebenraum sein Gerät aus. „Bravissimo!“ Begeistert klatscht er in die Hände und begibt sich zu den Gästen. Am meisten beeindruckt hat ihn bei der Premiere seines Concertinos für fünf Handys, op. 1 die Disziplin der Solisten, die noch genau so dasitzen wie in dem Augenblick, als er sie verlassen hat, jetzt jedoch entspannt und einander zulächelnd.

Concertino

The large round table in the club room of City Café is perfectly set: five plates, knives, forks, spoons, white wine glasses, bulbous red wine glasses, and—arranged accordingly—five people. Next to the spoon at each place setting, a cell phone. The guests, all very focused, rest their palms on the table. Is there a nervous excitement in the air? Will it go well?
And so it begins.
The first cell phone intones the sound of a blackbird, the second, the first bars of the national anthem, the third, a whistling tea kettle, the fourth the cooing of the proud mother’s newborn—a boy (20 in., 8 lbs. 2 oz.)—, and the fifth adds the clicking of a mechanical typewriter (Hermes Media 3) on which the same word, namely cock-a-doodle-do, is being typed with a carriage return bell after each syllable.
What an acoustic creation!
“Bravo!” In the adjoining room Maag switches off his phone. “Bravissimo!” He claps his hands enthusiastically and makes his way to his guests. What has impressed him the most at the premiere of his Concertino for Five Cell Phones, op. 1 is the discipline of the soloists, who are still seated exactly as they were the moment he left them, though now relaxed and smiling at one another.